Proaktivität und Interaktivität im WingTsun

Der vorliegende Aufsatz entspricht im Wesentlichen, dem schriftlichen Teil zur Erlangung des 3. Höheren Grades von Holger Grandpair, wel- cher bei Dai-Sifu Michael Schwarz eingereicht wurde.1redaktionelle Anmerkung.

von Holger Grandpair, 2. HG (mittlerweile 3. HG)2Der Autor ist Schulleiter der WingTsun Schule Homburg.

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A.  Problemstellung

WingTsun-Kung Fu ist keine Kampf-Sportart, sondern eine Kampf-Kunst, bzw. eine Kampf-Wissenschaft. Dies impliziert, dass wir uns mitnichten mit der Frage auseinandersetzen, ob wir einen Kontrahenten im Rahmen eines klar definierten Regelwerkes (einschließlich gleichen Bedingungen auf beiden Seiten) „besiegen“ können, z.B. indem wir mehr Wertungspunkte erzielen. Vielmehr liegt der Anwendungsbereich des WT in der realistischen Selbstverteidigung, bzw. der Selbstbehauptung (auch Gewaltprävention), d.h. der Neutralisierung (Eliminierung) einer gegen uns gerichteten Aggression, die uns zu einem nicht festgelegten Zeitpunkt aufgezwungen wird und deren Umstände wir nicht beeinflussen können.

Sofern es sich um den Fall der physischen Auseinandersetzung zwischen Männern mit dem Ziel der Unterwerfung handelt, sprechen wir vom männlichen Ritualkampf, der gemeinhin in fünf Phasen verläuft. Andere Situationen, die der Verteidigung unserer körperlichen Unversehrtheit (oder derjenigen von Dritten) bedürfen, sind Überfälle mit Raub- oder sexuellen Motiven. In diesen Fällen ist es möglich, dass die ersten der o.g. Phasen übersprungen werden und die gegen uns gerichtete Gewaltanwendung unmittelbar eintritt.

Gemeinhin beginnt eine klassische Konfrontation mit der visuellen Phase, d.h. der Aggressor nimmt Blickkontakt mit seinem potentiellen Gegner auf und versucht, diesen abzuschätzen und zugleich durch Fixierung einzuschüchtern. Kommt er daraufhin zu einer positiven Einschätzung seiner Gewinnchancen, geht er einen Schritt weiter und unternimmt eine verbale Kommunikation in Form einer Provokation („Hast Du ein Problem?“).  Die Phase vor der eigentlichen Eskalation besteht in einer ersten taktilen Kontaktaufnahme durch den Angreifer, indem er sein Gegenüber schubst, stößt, anrempelt oder packt. Sollte er seine Absicht beibehalten, erfolgt anschließend ein Zuschlagen, in der Regel mit seiner dominanten Faust in Form eines runden oder halbrunden Schlages (Hakens). Im schlimmsten Fall endet der (mithin entartete) Ritualkampf mit einem Treten oder Stampfen gegen den Körper des hilflos am Boden liegenden Opfers.

Gelangen wir in der jeweiligen Situation zu der Einschätzung, dass unser Versuch, durch selbstsicheres Auftreten Deeskalation zu betreiben, gescheitert ist, so müssen wir uns körperlich zur Wehr setzen, ehe der unvermeidbare Angriff uns empfindlich treffen und verletzen kann. Explizit zu diesem Zeitpunkt setzt die Anwendung einer Selbstverteidigung wie des WT ein.

Diesbezüglich kann hinsichtlich unseres Verhaltens eine Differenzierung in zwei Typen vorgenommen werden, nämlich in proaktives und interaktives Verhalten.

 

B.  Proaktivität

I.  Definition

Der Begriff Proaktivität wurde erstmals in der Logotherapie verwendet (Frankl). Bezeichnet wird damit ein durchweg bewusstes, vorausschauendes, selbstbestimmtes Handeln.

Proaktives Handeln geht mithin über bloße Aktivität hinaus und steht in Abgrenzung zu reaktivem Handeln sowie Aktionismus.

Frankl betonte, dass ein Reiz zwar zu einer Reaktion führt, dazwischen der Empfänger jedoch die Wahlfreiheit besitzt, wie er mit dem Reiz umgeht. Verhält er sich innerhalb dieses zeitlichen Fensters passiv, so bleibt lediglich das Nicht-Agieren oder das (instinktive) Re-Agieren, d.h. er unterwirft sich der Determinierung. Das proaktive Denkmuster „Ich will!“ steht beispielsweise dem reaktiven „Ich muss!“ gegenüber.

Allerdings kann frühzeitiges Handeln auch planlos, exzessiv und wenig zielgerichtet und damit zielführend sein. In diesem Fall spricht man von Aktionismus oder Aktivismus.

Proaktives Handeln bedeutet hingegen, in einer Reizsituation alle Einzelheiten wahrzunehmen, seine Einflussmöglichkeiten zu erkennen, die eigenen Stärken und Schwächen zu beurteilen, Ziele zu definieren, das eigene Handeln auf dieses Ziel hin auszurichten und auf diese Weise das Geschehen selbst zu bestimmen. Symptomatisch sind die Übernahme von Verantwortung, das Ergreifen von Initiative und eine Denkstruktur, die eine Konzentration auf die Lösung und nicht auf das Problem beinhaltet.

Zu beachten ist auch der zeitliche Aspekt, da einem die Umstände ansonsten irgendwann ein Reagieren aufzwingen. Da das (pro-)aktive Handeln diesbezüglich meist in einem engen Rahmen erfolgen muss, sind die Fähigkeiten zum Vorausschauen, Antizipieren, Improvisieren und kreativen Denken unerlässlich.

Neben Wahrnehmung, Analyse, Zielsetzung und Planung stellt das wesentlichste Merkmal der Proaktivität gleichwohl das entschlossene Handeln dar. 

 

II.  Umsetzung im WingTsun

Die Umsetzung proaktiven Verhaltens in einer Selbstverteidigungs-, bzw. Notwehrsituation besteht in der Durchführung eines Präventivangriffs. Das bedeutet, dass wir den Aggressor physisch attackieren, ehe er seine anvisierte Attacke in die Tat umsetzen kann. Dies entspricht dem WingTsun-Motto Ist der Weg frei, stoße vor!. Zur erfolgreichen Durchführung sind insbesondere zwei Attribute von wesentlicher Bedeutung: Timing und Effizienz.

In Bezug auf die Wahl des richtigen Timings orientieren wir uns an der sog. Magnetzonen-Theorie. Diese besagt, dass wir uns um unseren Standort herum einen Kreis vorstellen, dessen Radius so gewählt ist, dass ein außenstehender Gegner uns nicht mit einem Schlag oder Tritt treffen kann, ohne einen vorausgehenden Schritt zu machen. Steht der Aggressor außerhalb unserer Magnetzone, so besteht folglich keine unmittelbare Gefahr für uns. Umgekehrt müssten natürlich auch wir zum Unternehmen eines Angriffs eine Distanzverkürzung vornehmen. Dringt unser gewaltbereites Gegenüber nun in unseren imaginierten Kreis ein und hat noch keinen festen Stand erreicht, so ist dies exakt derjenige Zeitpunkt, an dem wir unsererseits (pro-)aktiv werden. Die (Pro-)Aktion des Verteidigers ist in diesem Fall schneller als die Aktion des Angreifers oder mit anderen Worten: der Letzte wird der Erste sein (Titel eines Buches von GM Kernspecht).

Damit die uns drohende Gefahr unmittelbar und nachhaltig beendet wird, ist es erforderlich, unsere Kraft in einen einzigen Schlag oder Tritt zu konzentrieren und den Aggressor an einer empfindlichen Stelle hart zu treffen. Anschließend können nötigenfalls Folgetechniken, wie Kettenfauststöße, durchgeführt werden. Eine halbherzig durchgeführte Attacke, die nicht zur Kampfunfähigkeit unseres Gegners führt, ist nicht nur nicht zielführend, sondern unter Umständen sogar kontraproduktiv und kann die Gefahr verschärfen. Auf jeden Fall gilt: je länger die Auseinandersetzung andauert, desto größer das Risiko, dass wir verletzt werden.

Das in der EWTO verwendete und sowohl eigenen Schülern als auch externen Personen (z.B. Sicherheitspersonal) vermittelte Konzept, das das ideale Verhalten bei drohenden (entarteten) Ritualkämpfen vermittelt, ist das BlitzDefence. Im Rahmen dessen wird folgendes mehrstufiges Vorgehen geschult.

Zunächst passen wir unsere Körperhaltung dem Gegner an, auch wenn er sich noch in einer sicheren Distanz zu uns befindet. Das bedeutet vor allem, dass wir unsere Arme heben und sie dergestalt platzieren, dass wir unserem Gegenüber keine Lücke bieten und wir seinen Armen den Weg zu unserem Kopf versperren. Streckt er einen Arm nach vorne (Führhand), so strecken wir ebenfalls einen Arm nach vorne (Man Sao), der ein Kreuz mit dem vorderen Arm des Gegners bildet. Einem Anfänger wird dabei empfohlen, den schwächeren Arm nach vorne zu nehmen und den stärkeren vor Brust und Kinn zu halten. Hält der Gegner seine beiden Arme parallel (in geschlossener oder offener Armhaltung), so spiegeln wir seine Position, wobei wir die nötigen Anpassungen in der Horizontalen vornehmen. Dies ergibt letztendlich vier Möglichkeiten: unser vorderer Arm entgegnet dem vorderen Arm unseres Widersachers parallel oder diagonal, oder aber unsere beiden Arme spiegeln die auf einer Linie befindlichen Armen unseres Gegenübers, wobei sich unsere Arme entweder etwas außer- und oberhalb oder aber etwas inner- und unterhalb dessen Position befinden. 

Der Aggressor muss nun erkennen, dass ihm ein leichtes Treffen unseres Körpers verwehrt ist, da er erstens einen Schritt unternehmen muss und ihm außerdem durch unsere Arme der Weg zum Ziel versperrt ist. Verkürzt er daraufhin die Distanz – vermutlich unter Ausstoßung von verbalen Provokationen, Einschüchterungen oder Ablenkungen -, so ist es zunächst geboten, unsererseits den Rückwärtsgang einzulegen, uns aus der Gefahrenzone wieder zu entfernen und aussagekräftige, sprachliche Botschaften zu senden, wie z.B. „Ich will keinen Streit!“ oder „Bleib stehen!“. Das Ziel dessen ist es einerseits, unserem Gegner unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass er bei uns auf Widerstand treffen wird, und ihn somit von seinem Vorhaben abzubringen, sowie andererseits, gegenüber deutlich zu machen, dass wir uns ausschließlich im Rahmen der Notwehr zur Wehr setzen wollen.

 Sollte unser Kontrahent sein Tun beibehalten und wiederholt in unsere Magnetzone eindringen, so müssen wir zwingend davon ausgehen, dass ein Kampf unausweichlich ist. Um diesen erfolgreich zu beenden, führen wir den bereits erwähnten Präventivangriff aus. Aus technischer Sicht werden den o.g. vier Positionen im BlitzDefence jeweils ein bis zwei WingTsun-Angriffe zugeordnet, wobei wir dazu tendieren, den ersten Schlag mit unserem dominanten, d.h. starken Arm auszuführen. Hat der Gegner seinen linken Arm vorne, so greifen wir mit linkem Lap Sao und rechten Fauststoß/Handflächenstoß an. Hat der Gegner seinen rechten Arm vorne, so greifen wir mit linkem Pak Sao und rechtem Hieb an. Hält der Gegner seine Arme parallel, eng beisammen und tendenziell niedrig, so verwenden wir bevorzugt die Kreuzfesselung unter Anschluss eines abschließenden K.O.-Schlages. Hält der Gegner seine Arme weit geöffnet, so attackieren wir ihn durch die Mitte z.B. mit innerem linken Lap Sao und einem Wirkungstreffer mit der rechten Faust oder Handfläche. Wann immer möglich erhöhen wir unsere Schlagkraft durch Verwenden des Falling-Step-Prinzips, d.h. wir lassen unser Körpergewicht, der Schwerkraft entsprechend, im Moment des Schlages nach unten fallen und drehen zusätzlich die Hüfte ein (Torsionskraft). 

Unsere Angriffe müssen solange andauern, bis der Aggressor an Ort und Stelle nicht mehr in der Lage ist, uns körperlichen Schaden zuzufügen.

Auch bei GreatGrandmaster Leung Ting war häufig zu beobachten, dass er eine Auseinandersetzung mit einem eigenen Angriff begann.

 

III.  Vor- und Nachteile

Der Vorteil des proaktiven Vorgehens besteht insbesondere darin, dass die Gefahr bereits beendet wird, ehe sie sich überhaupt verwirklichen kann. Wir müssen keinen Schlag unseres Gegners abwehren, da dieser noch überhaupt nicht stattgefunden hat. Auf diese Weise wird die Gefahr, dass wir durch sich länger hinziehende Kampfhandlungen Verletzungen davontragen, minimiert. Aus technisch-wissenschaftlicher Sicht genießt der proaktive Verteidiger den Vorteil, den ihm die Magnetzonen-Theorie bietet. Zu dem Zeitpunkt, an dem er seinen (WingTsun-)Schlag einsetzt, ist der Aggressor angreifbar, da er damit beschäftigt ist, einen Schritt nach vorne zu machen. Aus psychologischer Sicht haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite, da der mutmaßliche Angreifer kaum damit rechnet, dass sein vermeintliches Opfer aus seiner pazifistischen Haltung heraus plötzlich eine eigene Attacke unternimmt.

Auf der anderen Seite stehen mehrere Nachteile oder vielmehr Risikoaspekte zu Buche. Zuvorderst ist hier anzuführen, dass in dem Moment, in dem wir unseren Gegner physisch attackieren, die von uns gehegte Hoffnung auf eine friedliche Beilegung des Konfliktes unweigerlich zerplatzt. Letztendlich hat der Aggressor seinen Willen insofern bekommen, als dass es ihm gelungen ist, eine kämpferische Auseinandersetzung zu initiieren.

Dies hat wiederum zur Konsequenz, dass wir uns durch die Kontaktaufnahme mit unserem Widersacher in die Gefahr begeben, selbst getroffen zu werden. Hatten wir in der Distanz (Gegner außerhalb unserer Magnetzone) eine gewisse Kontrolle über das Geschehen und damit unsere Gesundheit, so gehen wir nun zweifelsohne ein Risiko ein. Insofern ist das richtige Timing unerlässlich, um dieses Risiko zu minimieren. Dennoch bleiben Parameter und Faktoren, die wir nicht hundertprozentig bestimmen können, vorhanden, wie z.B. die Achtsamkeit und die Nehmerfähigkeiten unseres Gegners, Dritte, die sich zu unseren Ungunsten einmischen usw.

Die größte Schwierigkeit besteht für den Verteidiger, der es gemeinhin nicht gewohnt ist, sich in der Öffentlichkeit unter Ausschluss jeglicher Regeln zu prügeln, in der konsequenten Durchführung seines Angriffes und damit in der Effizienz. Hierzu ist es erforderlich, dass er ein gewisses Maß an Aggressivität aufbaut und über den notwendigen Kampfgeist (eine der sieben Großen Fähigkeiten des WingTsun-Anwenders) verfügt. Dies ist in einem Schultraining wenig oder nur indirekt erlernbar. Hilfreich können psychologische Kniffe, wie die Verwendung eines Trigger-Wortes sein. Dies bedeutet, dass wir in unser Unterbewusstsein einen Begriff oder einen kurzen Satz einpflanzen (Konditionierung), bei dessen Aussprache wir einen mit höchster Aggressivität durchgeführten Schlag ausüben. Im KidsWT wird z.B. der Ausdruck „Stopp!“ (in laut gerufener Form) gebraucht, um die natürlichen Schlaghemmung zu überwinden.

Bruce Lee wird in diesem Kontext die Aussage zugeschrieben, dass man auch im Training, z.B. an einem Sandsack, jeden Schlag so durchführen müsse, als hinge sein Leben davon ab.

Schließlich kann bei der Betrachtung der Proaktivität der juristische Aspekt nicht ausgeklammert werden. Gem. § 32 StGB besteht ein Rechtfertigungsgrund für eine Körperverletzung (oder andere Straftaten) dann, wenn die Handlung zur Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs geboten ist. Hier erhebt sich für einen Richter, der ja nicht vor Ort dabei ist und sich auf spätere Schilderungen verlassen muss, zum einen die Frage der Verhältnismäßigkeit und zum anderen die Frage, wer denn nun eigentlich der Angreifer war. Denn in aller Regel wird derjenige, der den ersten Schlag ausführt und die Auseinandersetzung auch noch unbeschadet übersteht, als der Aggressor betrachtet. Umso wichtiger ist es, vor der Ausübung von körperlicher Gewalt gegenüber Zeugen deutlich darauf hinzuweisen, dass wir an einem Streit nicht interessiert sind.

 

C.  Interaktivität

I.  Definition

Der Begriff der Interaktivität findet in diversen Bereichen Verwendung und ist zusammengesetzt  aus den Wortbestandteilen inter = „zwischen“ und Aktivität = „handeln, betreiben“. Bezeichnet wird damit im Allgemeinen der Informationsaustausch zwischen zwei Größen, so z.B. in der Soziologie die Interaktion zwischen zwei Menschen, die sich gegenseitig wahrnehmen und ihr Verhalten aufeinander ausrichten können. Gemeint ist hier die  wechselseitige Beziehung zweier oder mehrerer Personen mit dem Ziel der Kommunikation. Es findet folglich die Beeinflussung eines Empfängers durch einen Sender statt. 

Interaktivität erfolgt mehrdimensional, d.h. die gesendete Information wird vom Empfänger auf unterschiedlichen kognitiven Ebenen aufgenommen und verarbeitet. Die Art und Intensität der Beeinflussung hängt demnach u.a. von der Wahrnehmung des Reizes, dessen Einordnung und Interpretation, den Umständen, dem Wissen und dem Erfahrungshorizont der Akteure sowie der fortgesetzten Anpassung an die dynamische Situation (bedingt durch das Verhalten des Gegenübers) ab.

 Eng verwandt mit dem Begriff der Interaktivität ist das Phänomen der Interdependenz, das insbesondere Prozesse der Sozialpsychologie beschreibt. Während die Dependenz die einseitige Abhängigkeit einer Größe von einer anderen meint, bezeichnet die Interdependenz die wechselseitige Abhängigkeit. Beispiel: das Verhalten von Person A hat einen Einfluss auf das Verhalten von Person B; letzteres hat wiederum eine Rückwirkung auf A.

Eine klassische Kampf- oder Selbstverteidigungssituation ist aus psychologischer Sicht ein Fall der konkurrierenden Interdependenz. Davon spricht man, wenn die Ziele der Entscheider A und B nicht beide oder zumindest nicht gleichzeitig realisierbar sind.

 

II.  Umsetzung im WingTsun

Zu interaktivem Verhalten kommt es in einer Zweikampfsituation, wenn wir es dem Gegner gestatten, den ersten Angriff auszuführen. In diesem Fall führt seine Aktion zu einer Reaktion unsererseits, nämlich einer Verteidigungshandlung nebst Konter. So ist die Art unserer Reaktion abhängig (Dependenz) von der Aktion (Angriff) unseres Gegenübers, woraufhin der von uns gesetzte Reiz (Konter) wiederum eine Auswirkung auf den Aggressor hat (Interdependenz).

Aus innerer (taostischer) Perspektive existieren keine festen, vorgefertigten Techniken, die man bei Bedarf aus einer Schublade entnehmen und 1:1 zur Anwendung bringen kann. Techniken haben allenfalls die Funktion, den wesentlichen Prinzipien eines Kampfstiles exemplarisch ein Gesicht zu geben und dadurch dem Anfänger eine logische Lernstruktur zu vermitteln. Tatsächlich kommt in der Realsituation eine Bewegung, bzw. ein Sich-Bewegen, zur Anwendung, das jeweils exakt für diesen Augenblick maßgeschneidert ist. Da kein Angriff mit dem anderen identisch ist und jeder Verteidiger über einen anderen Horizont an Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, erfordert auch jedes Argument seine eigene, ganz individuelle Antwort.

Aus strategischer Sicht können wir dennoch eine (nicht abschließende!) Aufzählung möglicher WingTsun-typischer Verhaltensweisen vornehmen.

 

1.  „Kontere einen Angriff mit einem Angriff“

Der Unterschied zu dem oben beschriebenen proaktiven Vorgehen mittels Präventivschlag besteht darin, dass hier der gegnerische Angriff bereits stattfindet. Ein gerader Faustschlag des Gegners kann beispielsweise durch einen parallelen inneren Fauststoß gekontert werden. In diesem Fall müsste der Fauststoß, analog dem aus dem Gum Sao aufsteigenden Fauststoß aus dem letzten Satz der Cham Kiu, hoch gezielt sein, um uns mit unserem eigenen Arm zu schützen.

Auch die viel geübte „Universallösung“ mittels Stopptritt und anschließenden Kettenfauststößen könnte man unter diese Überschrift subsummieren. Symptomatisch ist vor allen Dingen, dass die Technik mit dem richtigen Timing in die gegen uns gerichtete Angriffsbewegung hinein erfolgt und von einem aggressiven und raschen Vorwärtsgehen begleitet wird.

Eine Analogie besteht zu dem von Bruce Lee zitierten Prinzip der abfangenden Faust, welche den Kerngedanken des von ihm begründeten Jeet Kune Do darstellt (was man andererseits als Teil des WingTsun interpretieren könnte).

 

2. „Das Drehtür-Prinzip“

Die klassische Methode, die dem WingTsun-Novizen zur Abwehr eines Angriffs vermittelt wird, besteht darin, mit unserem vorderen Arm eine Verteidigungshandlung vorzunehmen und nahezu gleichzeitig mit dem anderen Arm zuzuschlagen. Bei den erstgenannten Bewegungen handelt es sich mitnichten um vorgefertigte Abwehrbewegungen (Blocks), sondern um ein Nachgeben, d.h. um passive Anpassungen. Der Angreifer bestimmt mit Größe und der Richtung seines Drucks die Art und Weise, wie sich unser Arm verformt.

Ein Beispiel für das „Drehtür-Prinzip“, mit dem wir die Kraft des Angreifers umleiten und gegen ihn richten, ist die Abwehr eines von außen kommenden Fauststoßes mittels Tan Sao mit der linken Hand, bei dem wir unser Gewicht auf unser rechtes Bein verlagern und einen rechten Fauststoß hinzufügen.

Auch in den ReakTsun-Programmen, die dem Fortgeschrittenen vorbehalten sind und es anhand eines bereits geschulten Tastsinnes erlauben, auch in einer näheren Distanz sicher zu reagieren, findet dieses Prinzip Anwendung.

 

3.  „Nimm auf, was kommt, begleite nach Hause, was gehen will, ist der Weg frei, stoße vor!“

So lautet ein mehrere Tausend Jahre alter taoistischer Spruch, der gerne mit dem WingTsun in Zusammenhang gebracht wird. Dreht man den Spruch um und beginnt mit „Ist der Weg frei…“, so passt er sehr gut zum BlitzDefence. Lässt man ihn so stehen wie oben zitiert, dann korrespondiert er eher mit dem Gedanken des inneren WingTsun, wonach wir 

              • den Angriff des Gegners zuerst einmal zulassen
              • mittels unseren frühzeitig erhobenen Arme durch Diagonalisieren und Verkanten Kontakt zu den Armen des Angreifers herstellen 
              • durch Adaptation unseren eigenen Armen und damit den Gegnerarmen ausweichen (Gestänge-Prinzip)
              • den Gegner dorthin begleiten, wohin er will, bis er seinen point-of-no-return überschreitet und ggfs. das Gleichgewicht verliert
              • und sofort anschließend (innerhalb eines Bewegungsflusses) die Verbindung mit dem Körper des Angreifers lösen und mittels geborgter Kraft einen Konterschlag ausführen.

 

III.  Vor- und Nachteile

Der Vorteil des interaktiven Handlungsansatzes zu Selbstverteidigungszwecken besteht darin, dass wir solange wie möglich eine Kontrolle über die Situation ausüben und nicht dem Risiko ausgesetzt sind, dass wir unsererseits (wie bei einem eigenem Erstschlag) ausgekontert werden. Da wir es dem Gegner überlassen, den ersten Angriff auszuführen, besteht überdies bis zuletzt die Hoffnung, dass er von demselben absieht und der Konflikt ohne einen Austausch von eskalierender Gewalt aufgelöst werden kann. Auch in Hinblick auf die juristische Beurteilung erscheint die Angelegenheit für uns in einem wesentlich günstigeren Licht, da die Tatsache, dass wir auf die fremde Aggression lediglich reagieren, indiziert, dass wir uns in einer Notwehrlage befinden.

Als Nachteil gegenüber dem proaktiven Vorgehen ist zu konstatieren, dass wir es dem Gegner erlauben, seine Attacke vorzubereiten, bzw. ihm Zeit geben, sich in eine aus seiner Sicht vorteilhafte Situation zu manövrieren. Um dies zu vereiteln, ist es erforderlich, unsere Achtsamkeit fortwährend aufrecht zu erhalten, um nicht in die Gefahr zu geraten, zu spät zu handeln. Darüber hinaus erfordert das Vertrauen in die Interaktivität ein grundlegendes Maß an visuellem Wahrnehmungsvermögen, Reaktionsvermögen, Körperschule (Techniken und taktilen Reflexen, was eine gewisse Trainingszeit voraussetzt.

 

D.  Fazit

Wie oben ausgeführt stellen die Vorteile des proaktiven Vorgehens im Umkehrschluss die Nachteile der interaktiven Handlungsweise dar. Umgekehrt ist mithin das gleiche der Fall. Gelingt es dem Verteidiger, mittels eines Präventivschlages sozusagen vollendete Tatsachen zu schaffen, d.h. den Aggressor kampfunfähig zu machen, ist die Bedrohung bereits in einem sehr frühen Stadium beendet. Allerdings ist damit das Einsetzen von Gewalt realisiert, und man muss sich mental und später unter Umständen juristisch (nicht zu vergessen mögliche zivilrechtliche Schmerzensgeldforderungen) mit den Folgen auseinander setzen. Alternativ besteht die Option, uns in die Rolle des Reagierenden zurückzuziehen und darauf zu vertrauen, dass wir zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Weise zu interagieren in der Lage sind.

Es ist evident, dass es keine für jeden Anwender und jede Selbstverteidigungssituation allgemeingültige Handlungsanweisung geben kann. Von großem Wert scheint hier die Entwicklung einer Risikokompetenz zu sein, d.h. die Fähigkeit, eine Lage, in der nicht alle Risiken bekannt sind, zu beurteilen. Eigenschaften, die diesbezüglich eine Rolle spielen, sind Erfahrung, ein ausgeprägter Gefahrenradar, Menschenkenntnis sowie eine Antenne für non-verbale Kriterien, wie Körperhaltung, Gestik, Mimik und Nähe-Distanz-Verhalten.  Eine solche Wahrnehmung und Bewertung muss in einem unbewussten Prozess unverzüglich durchgeführt werden.

Vernünftig erscheint eine gesunde Balance zwischen den Polen Kontrolle (Investieren in Interaktivität) und Risiko (Proaktivität), auch unter Berücksichtigung der mit dem WingTsun korrelierenden Tit-for-Tat-Strategie. Diese besagt, dass wir uns bzgl. unserer Aktivität und Aggressivität auch an unserem Gegner orientieren nach den Grundsätzen

      1. sich kooperativ verhalten, solange sich das Gegenüber ebenfalls so verhält (Interaktivität)
      2. sobald das Gegenüber Aggression erkennen lässt, sich daran anpassen und ebenfalls in den Konfliktmodus schalten (Proaktivität)
      3. sollte sich das Gegenüber rechtzeitig (vor der Eskalation) wieder zurücknehmen, ist in analoger Weise zu verfahren (Rückkehr zu Interaktivität).

Eine große Beachtung sollten wir auch unserem Bauchgefühl schenken, denn häufig ist unsere erste, intuitive Einschätzung der Situation zutreffend. Des Weiteren gewinnt die interaktive Herangehensweise zweifelsohne an Bedeutung, je weiter der Anwender mit dem WingTsun-Studium voranschreitet und infolgedessen an Handlungssicherheit gewinnt. Ein nach außen strahlendes Selbstwertgefühl kann in einem sich anbahnenden Konflikt sehr wohl für Deeskalation sorgen. Gleichwohl wird Gewalt stattfinden, wenn der Täter dies unbedingt will, woraufhin der proaktive, die Situation unweigerlich entschärfende Ansatz als Rückfalllösung bleibt.

 

 

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