„Lerne die Form, um die Form zu verlassen – trainiere die Technik, um die Technik zu vergessen.“ Teil 2

In Teil 1 ging alles um Form und wie man sich von ihr zu lösen vermag. Im abschließenden Teil 2 wird die Frage aufgeworfen, wieso eine trainierte Technik vergessen werden soll. Am Ende der Seite ist der Aufsatz als Pdf in einem schöneren Format abrufbar.1Der vorliegende Aufsatz entspricht im Wesentlichen, dem schriftlichen Teil zur Erlangung des 2. Höheren Grades von Florian Friedrichs, welcher am 14. Mai 2021 bei Dai-Sifu Michael Schwarz eingereicht wurde.

von Florian Friedrichs, 1. HG(mittlerweile 2. HG)2Der Autor ist Lehrer in der WingTsun Kampfkunst-Akademie von Dai-Sifu Michael Schwarz.

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C. „[…] trainiere die Technik, um die Technik zu vergessen.“

Die Form hat nun das Fundament gelegt, dass ich aus ihr eine Vielzahl an Techniken schöpfen kann, um sie in Anwendungen zu trainieren. Zunächst sei der Begriff der Technik zu definieren und anschließend die Frage zu beantworten, warum man die trainierte Technik wieder vergessen soll. 

I. Was bedeutet für mich „Technik“

Unter Technik verstehe ich in einem funktionalen Sinn, eine Kombination aus Bewegungen, die aus zwei Bewegungen, der einzelnen Formen, zusammengesetzt ist – Beispiel: TaanSao mit Fauststoß (1. + 2. Satz Siu Nim Tao). 

Losgelöst vom funktionalen Gedanken einer Kombination aus Bewegungen, könnten jedoch auch die einzelnen Bewegungen aus der Form herausgelöst, als Techniken betrachtet werden. Folgt man dem Prinzip der Gleichzeitigkeit, würde man im WingTsun einem Angriff nicht bloß eine einzelne Bewegung als Abwehr versuchen in den Weg zu stellen. Die Abwehr erfolgt stets in Verbindung (Kombination) mit einem (Gegen-)Angriff. Anschaulich gesprochen bedeutet dies, dass ich einem Fauststoß nicht bloß einen TaanSao, FookSao, PakSao, BongSao, etc. entgegenstelle und warte, wie der Angreifer als nächstes zum Angriff ansetzt, sondern ich füge zu meiner Abwehr (TaanSao, FookSao, PakSao, BongSao, etc.) noch einen Gegenangriff gleichzeitig hinzu (zum Beispiel einen Fauststoß oder einen Stoß in die kurzen Rippen oder einen Handflächenstoß aufs Ohr, etc.). Diese Gleichzeitigkeit hat den entscheidenden Vorteil, dass ich dem Angriff gleichzeitig mit einem Gegenangriff entgegne und ihm nicht die Chance bzw. die Zeit gebe, sich einen weiteren Angriff zu überlegen, wenn ich den ersten Angriff (ohne Gegenangriff) bloß abgewehrt hätte.3 im Ergebnis zustimmend Kernspecht in: ChiSao Kuen, Klebende Hände bringen Ordnung ins Chaos des Kampfes, 2. Aufl 2020, S. 273 f. 

Es ist somit die Regel festzuhalten, dass eine Abwehrtechnik aus den beiden Komponenten: Abwehr und (Gegen-)Angriff besteht, die gleichzeitig in einer Bewegung erfolgen. 

II. Der Vollständigkeit halber: Wie trainiere ich eine Technik  

Klassisch teilt sich eine Trainingseinheit in zwei Hälften: Zu Beginn (erste Hälfte) wird die Form trainiert, indem der Sifu oder ein Assistent die Form „vormacht“ und die Schüler sie „nachmachen“. Anschließend (zweite Hälfte) trennt sich die Schülerschar und verteilt sich in Gruppen geordnet nach Schülergraden (SG). Dort werden dann in der Regel, die verschiedenen Übungen trainiert. Beispielhaft schauen wir jetzt in die Gruppe um den 0.-1. SG: Der Übungsleiter gibt eine Übung vor, die anschließend von den Schülern trainiert werden soll. Zumeist in zweier Paaren werden die Rollen des „Angreifers“ und des „WingTsun-Schüler/Abwehrender“ verteilt. Der Angreifer greift mit dem vorgegebenen Angriff an und der andere wehrt mit der gezeigten und besprochen Technik ab. Das Ganze erfolgt abwechselnd und sofern möglich, mit verschiedenen Trainingspartnern. So häufen sich dann im Laufe der Jahre nicht nur einige Trainingsstunden, sondern und auch einige Techniken an.4Hier sei auf ein Problem hingewiesen, welches sogleich unter III. noch aufgriffen wird.          

Hier in unserem Beispiel ist die Technik eine Anwendung aus der ersten Form. Nehmen wir den TaanSao aus dem ersten Satz Siu Nim Tao und den Fauststoß aus dem zweiten Satz. Kombinieren wir beide Bewegungen erhalten wir die – uns allen bekannte – Technik TaanSao-Fauststoß, die in diesem Beispiel zur Abwehr eines geraden Fauststoßes angewandt werden soll. Als eine Technik, die zunächst der WingTsun-Neueinsteiger gezeigt bekommt, wird man ihm zunächst erklären, wie sich die Technik zusammensetzt (1. + 2. Satz Siu Nim Tao) und ihm dann unter zur Hilfenahmen der WingTsun-Prinzipien die Abwehr eines Fauststoßes mit TaanSao-Fauststoß zeigen und es ihn dann sogleich mit einem Trainingspartner üben lassen. 

Als WingTsun-Neueinsteiger übe ich jetzt 90 Minuten lang TaanSao-Fauststoß gegen geraden Fauststoß und sage danach „Toll, jetzt kann ich einen Fauststoß abwehren!“. Im nächsten Training kommt, was kommen muss: Ich trainiere mit einem anderen Trainingspartner und kassiere einen Treffer nach dem anderen – „Toll! Warum hab ich den nicht abwehren können?“ Dies kann natürlich zunächst viele Gründe haben. Sehen wir zunächst von dem Punkt ab, dass 90 Minuten Training für eine Abwehr, die in 10/10 Fällen funktionieren soll nicht ausreichen kann, könnten aber noch andere Gründe bestehen, wieso ich den Treffer einstecken musste. Zunächst ist festzuhalten, dass jeder Trainingspartner verschieden ist und dass nicht jeder gleiche Ausgangsvorraussetzungen mitbringt (Größe, Gewicht, Können, etc.). Im Training bietet dies natürlich den entscheidenden Vorteil, dass ich mich nicht an die Gegebenheiten meines Gegenübers gewöhnen kann und mich so immer flexibel an meinen neuen Übungspartner anpassen kann.5Das ist übrigens ein entscheidender Fehler im Training, sofern man ihm die Fehlereigenschaft zuschreiben möchte. Gemeint ist damit, dass die meisten Schüler (mich nicht ausgenommen) in jedem Training mit ihrem „Lieblingspartner“ trainieren und sich somit im Laufe der Zeit an die Eigenarten des anderen gewöhnen und sich ihm/ihr fast blindlings anpassen. Daraus könnte natürlich die Gefahr entstehen, dass ich mich meinem Gegenüber so sehr anpasse, dass ich vergesse, dass ein anderer anders angreifen könnte. Die Devise lautet also: Öfters mal den Partner tauschen!

III. Warum trainiere ich eine Technik, um sie zu vergessen? Oder: Worin liegt die Problematik hinter den Techniken? 

Die Technik, die unter II. trainiert wurde, soll nun also wieder vergessen werden. „Wieso, weshalb, warum?“, könnte man sich hierbei (berechtigterweise) fragen.     

 Ziel ist es, dass der Schüler etwas so oft geübt hat, dass er nicht über seine Reaktion nachdenken muss, sondern dass sie schneller da ist, als er denken kann. Denn wie wir von oben wissen, ist Kampf etwas schnelles. Und was wir aus dem Training auch wissen, ist, dass der mir gegenüber (sofern er will) schneller zuschlagen kann, als ich mir eine der tausend Abwehrmöglichkeiten ausgesucht habe. Eine Technik zu lernen, um sie zu vergessen, bedeutet also, dass ich sie vergessen kann, weil mein Körper die Bewegung in sich übernommen hat, die ich ihm einprogrammiert habe. Es geht hierbei nicht mehr um das abspulen „toter Techniken“, um sich so vermeintlich für den Kampf zu rüsten.6so Kernspecht in: ChiSao Kuen, Klebende Hände bringen Ordnung ins Chaos des Kampfes, 2. Aufl 2020, S. 97 f., der zurecht betont, dass das Einstudieren toter Techniken nicht zum Erfolg führt. Es ist nicht mehr eine Technik, die mir mein Sifu oder SiHing gezeigt hat, sondern es ist meine eigene Reaktion, die von meinem Körper schneller kommt, als ich darüber nachdenken kann. 

Das ist es, was ich im Kampf zum überleben brauche – um es mit der nötigen Dramaturgie auszudrücken. Im Kampf ist Denken zu langsam. Ich muss mich auf meinen Körper verlassen können. Ich darf nicht mehr an Bilder von Bewegungen denken und sagen, „die und die Bewegung muss genau so aussehen“. Von dem Gedanken Bilder nachstellen zu wollen muss man sich für den Kampf lösen. Es ist zwar sehr nützlich, wenn man im Kampf auf Erfahrungen (aus Training, oder Kampf) zurückgreifen kann, es soll sich dabei jedoch nicht in „formvollendete Bewegungen (Techniken)“ erschöpfen. Gemeint ist damit, dass die Bewegung so abgespeichert werden soll, dass sie durch den Einsatz des Gegners vervollständigt bzw. komplettiert wird.7Kernspecht in: ChiSao Kuen, Klebende Hände bringen Ordnung ins Chaos des Kampfes, 2. Aufl 2020, S. 162.  Die Technik soll hierbei mehr ihrer Funktion folgen. Es geht mir nicht darum den Bong- oder TaanSao genau so abzubilden, wie ich ihn aus der Siu Nim Tao kenne (wir erinnern uns: „sich von der Form lösen“). Ich löse mich auch von dem Gedanken, das Bild einer Abwehrtechnik auf Biegen und Brechen wiederzugeben, da dies im realen Kampf gar nicht funktionieren kann. 

Ich nähere mich so einem Stadium, indem man davon sprechen kann, dass ich die Technik vergessen habe. Natürlich meint „die Technik vergessen“ nicht, dass ich im Kampf nicht mehr weiß, was FookSao oder TaanSao ist. Vielmehr ist damit gemeint, dass ich mich davon löse, das standardisierte Abbild dieser Techniken einfach plump meinem Gegner entgegen zu werfen und zu hoffen, dass es schon gut gehen wird – es wird es zumeist nämlich nicht. Mein Gegner stellt mir ein Hindernis in den Weg und ich fließe wie Wasser an seinem Angriff vorbei. Da ist nichts mehr, was er mir in den Weg stellen könnte. Sein Angriff kommt und mein Körper reagiert in der Weise darauf, wie ich ihn dafür konditioniert habe. Der Körper reagiert – nicht der Kopf, denn der Kopf neigt dazu, in Formen und Techniken denken zu wollen, aber das ist nicht nötig, wenn ich mich zuvor richtig programmiert habe. Mein Körper reagiert demnach in diesem Stadium autonom.8vgl Kernspecht in: Vom Zweikampf, 2. Aufl 1989, S. 261.

D. Fazit oder: Warum man sich von Form und Technik lösen sollte 

Zusammenfassend lässt sich aus den vorangegangen Ausführungen sagen, dass die Form und die daraus abgeleiteten Techniken ein Fundament bilden, auf dem sich zunächst der Kampfkunstschüler stützen kann und darauf seine Fähigkeiten aufbauen kann und auch sollte. 

Weiterhin gilt festzuhalten, dass je fortgeschrittener der Schüler ist, desto eher kann er sich von den starren Vorgaben der Form und Technik lösen. Es gilt hierbei, sich vom Nachstellen von Bildern und Strukturen zu lösen und auf Funktionalität zu bauen. Die Formen und die Techniken folgen stets ihrer Funktionalität. 

Der (reale) Kampf auf der Straße, folgt keinem vorgegebenen Muster. Dem Angreifer können auch keine Vorgaben gemacht werden, wie er anzugreifen hat, dass die eigene Abwehr genau so „gestellt“ werden kann, wie man sie sich eingepaukt hat. 

Es gilt unentwegt das Prinzip der Anpassungsfähigkeit an die Bewegungen des Gegners und nicht das Abspulen auswendig gelernter Bewegungen. 

Abschließend ist aber natürlich auch zu sagen, dass bevor eine Technik oder Form verlassen werden kann, sie zunächst beherrscht werden muss. Es bringt demnach nichts, wenn man zum Beispiel versucht den BongSao an den Bewegungen des Angreifers anzupassen, wenn man keinen funktionierenden BongSao „erzeugen kann“, so wie die Form ihn vermittelt.

 

 

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